Mother Tongue 23.08.10 Stuttgart, Universum
Es gibt kaum eine Band, bei der ich mich so auf ein Wiedersehen gefreut habe wie bei Mother Tongue.
Zuletzt gesehen im Jazzhaus im Oktober 2003 und danach immer wieder im Netz geforstet nach neuen Platten und vor allem Tourneedaten, weil die Band mich einfach in ihren Bann gezogen hat.
Nun aber zurück ins Jetzt:
Das Universum in Stuttgart ist ähnlich wie das LKA unterirdisch in einem stillgelegten Tunnel, direkt an eine U-Bahn-Station angegliedert. Kleine Bühne, niedrige Decke, rechts neben der Bühne eine kleine Bar, im schlauchartigen hinteren Teil noch zwei weitere, klassisch dunkel gehalten.
Wir waren relativ pünktlich da, alles andere wäre bei so einer langen Wartezeit auch schlicht bescheuert gewesen...
So konnten K. und ich sehr schöne Plätze in der dritten Reihe ergattern, ca. ein bis zwei Meter von der Bühne weg. Leider standen wir ziemlich rechts und das war eben die Seite von Christian Leibfried, dem wohl ehrfurchterregendsten Gitarristen, der mir jemals untergekommen ist. Und zwar nicht wegen seiner durchaus hörenswerten Gitarrrenkünste, sondern wegen seiner Aura, die für mich das pure Böse verkörperte. Nicht nur ich war nach dem damaligen Freiburger Konzert massivst eingeschüchtert ob Leibfrieds Habitus. Umso beruhigender, dass das Enfant terrible der Band inzwischen relativ brav aussieht, mit kurzen Haaren und mit ohne Bart - würde auch gut zu a-ha passen.
Als die Band auf die Bühne kam, war der Jubel und die Ungeduld sehr groß; ein Zeichen, dass die Leute im Wesentlichen schon wussten, was sie erwartet. David Gould, seines Zeichens Bassist und Sänger, fing an 'Damage' zu spielen. Dazu verkroch er sich aber nicht vor seinem Amp, sondern ging an den Bühnenrand und in der ersten Reihe musste man aufpassen, dass man bei seinen tranceartigen Bewegungen zu seinem Spiel nicht den Bass an den Schädel bekam. Schon in den ersten Sekunden wurde so offensichtlich, was der Band wichtig ist: nämlich direkter Kontakt zum Publikum. War der Beginn noch getragen und ruhig, so versteht es Mother Tongue wie kaum eine andere Band die Dynamik zu forcieren, um in extrem treibende, ja gar aggressive Grooves zu verfallen, bei denen man gar nicht still stehen kann. So spielten Mother Tongue die Hits der letzten 20 Jahre und auch neue Stücke - und alle, ausnahmslos, waren großartig. Ähnlich dynamisch wie der Opener kamen dann 'Burn Baby', 'Vesper' , 'Casper' und weitere Stücke daher. Die Spielfreude war der Band in jedem Moment anzusehen und zu spüren. Kein Lied war wie die bekannten Studioversionen und höchstwahrscheinlich auch nicht wie jemals zuvor live. Immer wieder musikalische Eskapaden der Gitarren oder von David Gould am Mikro. Eine schweißtreibende Atmosphäre zwischen Bühne und Publikum, in der man mitwaberte. Unglaublich viele euphorische Zwischenrufe, die die Band aufnahm und die Frontman Gould gern aufgriff, um den Dialog mit dem Publikum verbal oder musikalisch zu führen.
Das Credo von MT ist Liebe, die ihren Ausdruck in deren Musik findet und die die ganze Atmosphäre prägt. Das Beispiel des betrunkenen und torkelnden Fans, der seinen Publikumsnachbarn extrem auf den Geist ging, zeigt dies deutlich.
Die Angenervten reagierten mit der Zeit etwas rabiat. Als Gould das auf der Bühne wahrnahm sagte er mit sanfter Stimme: " Hey, come on. He only drank too much, so help him ...". So oder zumindest ähnlich wirkte sein Appell an die Umstehenden derart, dass sie den Nerver an die einen Meter entfernte Wand lehnten und ihm trotzdem den Blick zur Bühne ließen... könnte die Welt nicht so schön sein?
Aber ich bin abgeschweift. Mit zunehmender Konzertdauer nahm auch der Alkoholpegel auf der Bühne beträchtlich zu, was man insbesondere an der Ausdrucksform von Leibfried wahrnahm, die immer expressiver wurde und gegen Ende darin mündete... Hmm, das kann ich jetzt nicht so einfach kurz abhandeln (schon mal sorry für die Überlänge, die nachfolgenden Berichte verzögern sich um zehn Minuten).
Also irgendwann gegen Ende des Konzis (ich weiß nicht mehr, ob das in der Zugabe war) ging Leibfried völlig ab. Bei 'Fuck the World' schrie er das Publikum bei seinem Background 'fuck 'em all' regelrecht an und bedeutete, dass alle mitmachen sollen. Diese Einladung, sich mal alles aus dem Leib zu schreien, wurde gerne angenommen, was aber nicht in wildem Geschrei endete, sondern immer im Zwiegespräch mit der Bänd. Irgendwann kam dann Leibfrieds Solo. Ich hörte ihn zwar, sah ihn aber nicht mehr, was daran lag, dass CL am Boden vor seinem Verstärker lag und rumschrubbte wie blöd. Die Bänd, die ihn seelenruhig gewähren ließ, sah dann den Senior des Ensembles aufstehen, um die Gitarre mit den Füßen zu bearbeiten bevor er mit Anlauf ins Publikum sprang und eine schiere Ewigkeit von enthusiastischen Händen getragen wurde, um als Teil des Ganzen zu verschmelzen.
Ein hypnotischer Abend, der nach der zweiten (oder gar dritten?) Zugabe ein ausgepowertes und euphorisches Gefühl in einem hinterließ, aber man war innerlich ganz ruhig - nicht leer, sondern vielleicht sogar ein bisschen erfüllt von der Liebe Mother Tongues....
Micha, 12.10.10