Altlasten, Drehungen, Irrungen - und ein verlassener Hund
                          (Notizen aus der Hauptstadt)


    I  Altlasten

Am Berliner S-Bahnhof Ostkreuz wurde eines trüben Herbstnachmittags eine Bombe gefunden. Neue Altlasten des letzten Krieges also, was an jenem Platz im Rahmen seit geraumer Zeit stattfindender Bauarbeiten nicht sehr ungewöhnlich ist. Wie üblich, nach derartigen Ausgrabungen, sperrten örtliche Polizeieinheiten im Umkreis von etwa fünfhundert Metern die Straßen ab. Des Weiteren evakuierte man im betroffenen Bereich liegende Wohnungen sämtlich. Auch diese Maßnahme ist bei potentieller Gefahr der Erdangleichung ausgesetzten Arealen gang und gäbe. Wer also gerade zu Hause verweilte, wurde rausgeschickt; und wer draußen war, dem wurde der Einlass ins traute Heim verwehrt. Reine Routine, Diskussion zwecklos.

In Erfahrung bringen konnte ich dies, als ich in einem Ladengeschäft just um die Ecke des staatlich gesicherten Bezirks weilte. Inmitten meiner ausgiebigen Durchforstung der ausschließlich aus Vinyl-Erzeugnissen bestehenden Verkaufsgüter betrat ein weiterer Kunde den Raum, aus welchem bald - wenn auch ungefragt - ein recht ausführlicher Bericht lossprudelte; adressiert an des Betreibers Ohren. Seit Stunden schon war der Erzählende genötigt, in den übervollen Cafés der Gegend Zeiteinheiten zu überbrücken, bis er mit Zwangsbesuchen diverser Lokale schließlich entschieden übersättigt war. Da er noch immer nicht heimkehren durfte, erfuhr man weiter, habe er begonnen, die Straßen im Zickzack-Kurs abzulaufen, was den Geplagten wiederum hierher geführt habe. Nach diesem recht einseitigen Vortrag, unterbrochen lediglich durch gelegentliches mhm oder aha des Zuhörenden, nun wenigstens verbal erleichtert, schwenkte das Gespräch hin zu dieser vier Wände angemessenerer Themen, entwickelte sich in logischer Folge gar zu einem echten Dialog und wurde somit wesentlich abwechslungsreicher. Abschließend kaufte sich der vorübergehend von festem Wohnsitz Befreite ein paar alte Cure-Platten. Damit, so erklärte er, habe ihm diese Unannehmlichkeit wenigstens noch etwas Gutes gebracht.

   II Drehungen

Auf dem Rückweg zu meinem temporären Domizil, nur unweit zuvor erwähnter Lokalität gelegen, passierte ich eine der polizeilich abgesperrten Ampelkreuzungen. Hierbei fertigte ich nebenher ein Zigarettchen für den Rest des Spaziergangs, ums linke Handgelenk die Tüte mit den Einkäufen tragend. Auf der anderen Seite angekommen sprach mich ein geduldig dort Harrender an: "Haste mal 'ne Drehung?" Aus dem anscheinend irritierten Ausdruck meiner Miene schloss er folgerichtig mein Nichtverstandenhaben und wiederholte seine Frage, wobei der junge Hipster, als möge er seine Bitte unterstreichen, auf mein soeben fertig gestelltes Glimmstäbchen deutete. 'Hättest auch gleich sagen können, dass du eine dreh'n willst...' dachte ich und ließ ihn gewähren. Ich überlegte, wo ich diesen mir höchst missraten scheinenden Ausdruck wohl zuvor schon gehört hatte, und tatsächlich flackerte flink folgende Begegnung aus tieferen Ablagen meiner Erinnerungsregale auf:

Als ich Monate zuvor mit einem Freund in einer anderen Stadt Fastfood kauend auf einer Parkbank saß, kam eine zweifelsohne ziemlich zugeknallte, durchgehend pigmentierte junge Frau auf uns zu, um wankend und schwergewichtiger Zunge genau jene Frage anzubringen. Keiner von uns beiden war in der Lage, auch nur vage zu erahnen, was sie damit wohl meinen könnte und ob des eher verrufenen Leumunds der Grünflache, an welcher wir uns niedergelassen hatten - nicht zuletzt auch ob des Zustands der Fragerin - vermuteten wir am ehesten illegale Drogen, die wir grade eben nicht im Gepäck trugen. Möglicherweise verströmte ich in jenem Augenblick bereits postmahlzeitlichen Qualm, jedenfalls machte die mutmaßlich unter freiem Himmel lebende umgehend ehrlicher Empörung Luft, schimpfte uns lautstark und versicherte, wenn sie etwas hätte, würde sie ja auch davon abgeben. So ging dies einige peinlich gefärbte Minuten lang, bis sie sich auf Zuruf eines ihrer Kumpanen beleidigt trollte. Leider hatte sich die mit Ablehnungsbescheid Bedachte nicht ausreichend befähigt gezeigt, den banalen Punkt schlicht und eindeutig zu artikulieren, woraufhin sie selbstverständlich gänzlich ohne Geschrei das Ersehnte hätte bekommen können. So aber klarte mein Schleier aus Unverständnis erst Monate später und räumlich weit entfernt auf.

   III Irrungen

Anderntags unternahm ich einen kleinen Ausflug nach Prenzlauer Berg. Auch dort konnte ich nach ausgedehntem Stöbern in ausgesuchtem Plattenladen sowie einer kurzen Frage an die Verkaufsfachkraft endlich meine Wahl fällen. Ich wartete, bis die Betreiberin diverse Erledigungen und Telefonate beendet hatte, um meinen Stoff zu bezahlen. "Die möchteste haben?" fragte sie der Form halber. Ich bejahte. Da es in diesem Geschäft Usus ist, im Verkaufsregal nur die Hüllen stehen zu haben, machte sich die Dame also dran, die zugehörigen, meist schwarzen Scheiben herauszusuchen. Dabei unterhielt sie sich angeregt mit einem weiteren Anwesenden, der ihr soeben irgendwelche Veranstaltungsplakate vorstellte. Irgendwann hielt sie mir die leere LP-Hülle wieder hin, und fragte mich in englischer Sprache, ob ich die wieder zurück stellen könne. Ich nickte, tat wie mir geheißen und entgegnete schmunzelnd: "Ich versteh übrigens auch Deutsch." Nicht ohne Selbstbelustigung entschuldigte sie sich kurz, erklärte, es seien an diesem Tag schon so viele englisch-sprachige Kunden hier gewesen, und, na ja, es sei ja nun ein bereits fortgeschrittener Arbeitstag. Sie suchte mir noch die Single raus, zählte die beiden Zahlen zusammen und sagte: "Twenty-one, please...".

    IV  Ein verlassener Hund

Die letzten Minuten vor meiner Abreise verbrachte ich am Ostbahnhof, die Berliner Luft vor Besteigen des Verkehrsmittels meiner Wahl noch mit ein paar schicken Schwaden blauen Dunstes zu bereichern. Und wie des Öfteren an solchen Orten sollte nicht viel Zeit verstreichen, bis ich von einem bereits kräftig alkoholisch beseelten Mann nach einer 'Sigarette' gefragt wurde. Ich wies darauf hin, dass ich lediglich Drehtabak mit mir führe, der Herr signalisierte per kurzem Nicken sein Einverständnis. Da mir nicht verborgen geblieben war, dass der etwa Fünfzigjährige seine Hände in etwas verkrampfter Haltung vor der Brust hielt, bot ich an, den handwerklichen Teil für ihn zu übernehmen. Erneut wortloses Nicken. Dann: "Das finnich jetz aba total nett, dassu mir eine dreehs". Er lächelte scheu. "Kein Thema" versicherte ich, "hab eh nix zu tun, als auf'n Zug zu warten". Womöglich um ein wenig im Gespräch zu bleiben, während ich die Kippe rollte, nuschelte er irgendwas von Regional-Express, woraufhin ich erwähnte, dass ich in den Südwesten reise und daher die schnellen Züge vorzöge. Wohin es denn gehe, wollte er wissen. Ich nannte den Namen der Stadt. "Ach!!" erwiderte er fast freudig. "Kennich gut" fügte er an, "Ich komm gans ausser Nähe von da!!" Er nannte das nahe gelegene Städchen am Rhein, in welchem er aufgewachsen war. "Dassis aba schon lange her. Hab damals mein Hund beim Nachbar gelassen. Der passt gut auf ihn auf, habbich gedacht. Mussich mir keine Soorng machn umm ihn. Ich mussde ja weg. Der Nachbar hatt ihn behalten. Habbich den Hund dagelassen und bin weg..."


(Oktober '10)

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