Einstürzende Neubauten 10.06.22 Wiesbaden, Schlachthof

 

Vor über zwei Jahren bekam ich anlässlich eines seinerzeit anstehenden recht runden Geburtstags ein Ticketgeschenk für ein Konzert angekündigt. Und dann durfte ich mich gar über zwei Jahre lang auf dieses Konzert freuen. Nun endlich bekam ich die wohl experimentierfreudigste Bänd hierzulande zu Gesicht und Ohren…

Um halb neun betraten die sechs Neubauten, angefangen mit Live-Keyboarder Felix Gebhard, die Bühne. Ihm folgten Jochen Arbeit an der Gitarre, Rudolf Moser und N. U. Unruh an Schlagzeug bzw. diversen, mehr oder minder eigenartigen, Percussions, Alexander Hacke am Bass und zuletzt Sänger, Dichter, Texter, Frontmann und nicht selten launische Diva der Bänd, Blixa Bargeld. „Long time no see“ sprach dieser das Publikum direkt an und erntete auf diese freundliche Saat ebenso direkt freundlichen Applaus. Gleich danach erklangen die ersten Töne von „Wedding“, aus dem sehr songorientierten letzten Album ‚Alles in Allem‘ aus 2020. Ein schöner Auftakt!!

Es ging hier nicht um Hochzeiten“, tat der Sänger unmittelbar nach dem Opener kund, „das haben Sie sicher bemerkt, sondern um einen nördlichen Distrikt von Berlin“. So viel Ansprache bereits zu Beginn des Auftritts ans Publikum ließ auf einen gut gelaunten Frontmann schließen, der im dunklen Anzug, langhaarig und mit Glitzer um die Augen, mittels Siezen offenbar zunächst noch etwas Distanz zu den geschätzt fünfzehnhundert Anwesenden im gut zwei Drittel gefüllten Saal wahren wollte.

Bald jedoch duzte er, kommentierte etwaige Zwischenrufe nach bestimmten Songs, indem er sich dem Zwischenrufer erst zu-, dann abwandte und jemand anderes ansprach: „Dann erzähl ich es eben dir“. Zu erzählen gab es die Geschichte der Entstehung eines viermütigen Songs, der aus dreizehn Teilen besteht: Im Proberaum, so Bargeld, spiele die Bänd immer wieder ein Spiel namens ‚Dave‘ – mit etwa sechshundert Karten. Auf diesen Karten stehen Namen, Instrumente, potenzielle Instrumente, Wörter, Kunstwörter, Begriffe – alles Mögliche eben. Hieraus wurde, nachdem alle ihre Karten gezogen und kreativ verwertet hatten, sowie die Einzelteile ineinander verwoben waren, in diesem Fall das Stück „Zivilisatorisches Missgeschick“.
Ein anderes Mal reagierte er auf neuerliche Zwischenrufe mit der lapidaren Information: „Ich glaube an sich selbst organisierende soziale Systeme“. Und nach einer kleinen Kunstpause: „Ich werde nicht sagen: Shut up. Das müsst ihr schon selber machen“. Sehr unterhaltsam, das!!

Auch musikalisch verlief der Abend rund und stimmig. Die Stimme war von Beginn an deutlich und klar zu hören; überhaupt war der Sound von Anfang an recht gut, so dass das dritte Stück im Set, „Nagorny Karabach“, ein Klassiker aus der fortgeschrittenen, weniger brachialen Phase der Bänd, ein echter Genuss war. Mitsamt der in rotes Licht getauchten Bühne, der weißen Leinwand dahinter, die nun auch rot eingefärbt war und auf welcher die Bänd, häufig bei Stücken des komplett gespielten aktuellen Albums, vom Bühnenrand her angestrahlt wurde und im Hintergrund als Schatten zu sehen war. Somit war die reduzierte Live-Performänce sehr gut passend zu den überwiegend ruhigen Stücken, welche sich im Set der ursprünglich „Year of the Rat“ genannten, nun aber in „Year of the Tiger“ umbenannten Tour fanden.

Nach dem dritten Stück kündigte Blixa an, jetzt zwei Stücke aus „früheren Zeiten“ zu spielen, „da war Boris Jelzin noch russischer Präsident und vieles war unvorstellbar. Wir kannten Begriffe wie Brexit noch nicht […]“. Nach einem kurzen Sinnieren seitens des Sängers vernahm ich sehr erfreut die Klänge von „Die Befindlichkeit des Landes“, auch dieses eines meiner Lieblingsstücke aus dem umfangreichen Schaffen der Berliner – Mela-Mela-Mela-Mela- Melancholia liegt über der neuen Stadt und über dem Land – sehr geil!! Textlich dabei sicherlich heute noch immer so aktuell wie vor zwanzig Jahren und für mich mit „Nagorny Karabach“ einer der Gänsehaut-Momente des Abends.

Highlights waren für mich außerdem – nicht zuletzt ob deren Rarität im Set – die hin und wieder lauteren Passagen mancher Stücke. Etwa das großartige, durchaus als Klassiker zu bezeichnende „Redukt“ zum Abschluss des ersten Zugabenteils. Großes Highlight!!

Bei alldem wirkte die Bänd hervorragend eingespielt und aufeinander abgestimmt und hatte offensichtlich selbst großen Spaß am Wirken auf der Bühne, die zwischen dem regulären und den beiden Zugabensets jeweils wieder mit neuem Klangmaterial bestückt wurde. Etwa große Einkaufstaschen aus Plastik, die von Unruh und Arbeit perkussiv bearbeitet bzw. von Hacke auf dem Kopf herumgerollt und -gezogen wurden und dort für dumpf raschelnde Geräusche sorgten. Wiederum machte sich der Frontmann einen Spaß daraus, dem Publikum zu erzählen, die Taschen seien für die Tour vor zwei Jahren gerichtet und seither nicht mehr geöffnet worden. Es wisse also niemand mehr, was genau sich darin befände. „Vielleicht auch etwas Lebendiges…!?“ raunte der Sprachspielkönig.

Auf der Bühne befanden sich derweil – nebst erwähnten Taschen – viele sehr unkonventionelle Instrumente; unter anderem ein laut Blixa Bargeld seit 1987 nicht mehr live benutzter Einkaufswagen mit Tonabnehmern, eine blaue Tonne, ein Schlagzeug mit etwa meterlanger, vertikal ausgeloteter Eisenspirale, sägeblattähnliche Becken, rollenfömig aneinandergereihte, vielzackige, ebenfalls an Sägeblätter erinnernde Scheiben, drei oder vier Klangrohre, Luftkompressoren, sändwichmäßig verbaute Plastikflaschen und vieles mehr. Und natürlich wurde dabei die digitale nebst analoger Soundtechnik sehr ergiebig ausgelotet, (fast) sämtliches Instrument war verstärkt. Jene überwiegend perkussive Sounds wurden häufig mit Violinklängen des Keyboards umrahmt, während die Stimme mit ihren Texten über allem thronte.

So war dieser zweistündige Auftritt der Einstürzenden Neubauten, die sich gänzlich auf ihr Schaffen der jüngeren Häfte des gesamten Wirkens beschränkten, außerordentlich kurzweilig, höchst unterhaltsam und bescherte viele beeindruckende Momente.
Ich begutachtete nach dem Konzert noch das oben erwähnte Instrumentarium auf der Bühne, drückte mich noch ein wenig am Merch herum, verzichtete dort auf den Kauf der angebotenen Live-Aufnahme und entschied mich für ein T-Shirt, ehe wir diesen außergewöhnlichen Konzertabend gemütlich in der lauen Sommernachtluft ausklingen ließen…

 

Abschließend noch die Abschrift der fotografierten Setliste:

Wedding / Möbliertes Lied / Nagorny Karbach [sic] / Die Befindlichkeit des Landes / Sonnenbarke / Seven Screws / Grazer Damm / Alles in Allem / Zivilisatorisches Missgeschick / How Did I Die? / Am Landwehrkanal / Ten Grand Goldie / Susej // Taschen / Sabrina / Redukt // Rampe / Tempelhof

16.06.22

Hier das offizielle Video des Album-Titelsongs und da „Die Befindlichkeit des Landes“ im Schlachthof

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