Wenn der Herbst leise angekrochen kam, fühlte Theo, die kleine Stadtspinne, sich sanft von süßer Melancholie angeflogen. Vorbei nun bald die Zeit, in der er bis spät in den Abend hinein lustig an seinen Fäden baumeln und dabei zuschauen konnte, wie genügend Fliegen in sein kunstvoll gewobenes Netz irrten. Die Tage würden nun kürzer und unwirtlicher, die Speisekarte dünner werden. Also machte er sich auf, einen sicheren Ort für die bevorstehende Zeit zu finden. Warum nicht in einer der großen, akkurat normgeformten Unterkünfte dieser unberechenbaren Spezie auf zwei Beinen?, dachte er, dort gibt es immer eine Öffnung oder einen Spalt, durch welchen eine Spinne mit Leichtigkeit ins warme und trockene Innere gelangen kann.
Eines lauen Spätsommerabends führte sein Instinkt ihn gewohnt zielsicher zum am nächsten gelegenen Gebäude. Von den angrenzenden Sträuchern kommend erklomm er den Balkon, huschte über diesen hinüber zur Wand und krabbelte behende deren verlässlich Halt gebende Fläche in Richtung eines kleinen, gekippt stehenden Fensters hoch. Theo kroch den Spalt hinein und erkundete sogleich die Umgebung. Der Raum war klein. Im Zentrum befand sich ein heller, glatt geschliffener Stein, in dessen Mitte er wiederum ein Wasserloch ausmachen konnte. Vom Fenstersims schwebte der Spinnerich an einem Faden hinab, womit er gleichsam begonnen hatte, sein Netzwerk für die Nacht über dem kraterförmigen Gebilde zu fertigen. Flink bekrabbelte er die Wände, setzte die Eckpunkte seiner Fäden an, warf sich gesichert wie ein Bungee-Springer in die Tiefe, erklomm den Faden erneut, sich dann wiederum nach der einen wie anderen Seite zu schwingen, um die Verbindungsstränge des Netzes anzubringen. Bald hatte er die Grundfeste für sein Domizil geschaffen.
Auf dem Balkon der von Theo gewählten Wohnung saß indessen der Mensch, der hier wohnte. Dieser versüßte sich den Abend bei kühlem Getränk und höher gelegten Beinen. Er sog die letzten Sonnenstrahlen förmlich in sich auf, denn auch er ahnte, dass die Tage auf seinem geliebten Freisitz bald gezählt seien. Ganz in Lektüre vertieft, erhob er sich nur, wenn er Getränkenachschub benötigte oder bereits konsumiertes nach Auslass drängte. So waren dem Menschen - just, als die kleine Stadtspinne sich in den letzten Zügen ihrer Arbeit befand - die Signale seiner Blase nicht länger ohne Beachtung zu lassen. Langsam erhob er sich, die unumgängliche Maßnahme einzuleiten. Er schlurfte zur Toilette, warf sich breitbeinig vor dem Becken in Stellung und öffnete die Hose. Vorfreudig entfleuchte ihm dabei ein auf bald einsetzende Erleichterung hindeutendes Seufzen. Mit halb geschlossenen Augen ließ er unter wohligem Schauer dem Gewässer nun seinen freien Lauf.
Der plötzliche Luftzug des Öffnens der Türe erreichte Theo kurz vor Ende seines Netzbaus. Er war soeben am unteren Teil der Befestigungsanlage beschäftigt, als das riesige Wesen den Raum betrat. Sein reflexartiger Instinkt ließ ihn ohne zu zögern die Flucht ergreifen. Er befand sich nur wenige Zentimeter über dem Wasserspiegel, musste also die glatten, feuchten Wände himmelwärts eilen, eindringlich hoffend, ein von der Bedrohung nicht einsehbares Versteck zu erreichen. Aus einem Winkel seiner Lichtsinnesorgane sah Theo noch, wie der merkwürdige Zweibeiner mit seinen beiden Greifern etwa in Körpermitte an der ihn umgebenden Hülle nestelte. Dabei waren grollende Geräusche aus dessen Innern zu hören, die den Spinnerich an entfernten Gewitterdonner erinnerten. Bereits im nächsten Moment machte Theo einen mächtig klatschenden, warmen und unangenehm säuerlich duftenden Wasserstrahl neben sich aus, dessen Wellen seinen runden Körper sogleich umschlugen und unzählige Spritzer auf ihn niederprasseln ließen. Augenblicklich verlor er jeden Halt. Er glitt in die Tiefe des Beckens, tauchte unwillkürlich in das Gewässer, welches nun in rasender Geschwindigkeit wärmer und trüber wurde, und - getroffen von unablässigem Strahl - unter wasserfallartigem Lärm bald Schaumkronen trug. Verzweifelt suchte Theo, seinen Körper aus der Brühe zu retten, nach oben zu gelangen, an Land, ins Trockene, zurück ins Netz, sein Zuhause, wo er sich sicher wähnen könnte. Er strampelte wild, raffte alle noch verfügbaren Kräfte zusammen, sich aus diesem gefährlichen Szenario zu befreien - vergebens. Erbarmungslos rissen ihn die Strudel in die Tiefe. Seine winzigen Lungen von saurer Flüssigkeit geflutet, wurde er wie ein Staubkorn im Sandsturm umhergewirbelt, um die eigene Achse gedreht, nach unten gezogen, trieb wieder nach oben, um gleich darauf erneut abwärts zu sinken...
Mit einem letzten, erschöpften Zucken seiner Spinnenbeine verlor Theo die Besinnung. Er hörte nicht mehr, wie der Strahl zu einem Tröpfeln wurde und schließlich langsam zum Erlöschen kam, auch nicht das entspannte Grummeln des Menschen, der sich nach Verrichten seiner Notdurft abwesend ein paar Spinnweben aus dem Haar wischte; er fühlte auch nicht mehr den Sog, welcher seine reglosen Glieder in nicht enden wollende Tiefen riss, nachdem der Mensch den Spülknopf betätigt hatte. Der letzte Gedankenfaden, der sich vor Theos Verschwinden in der Tiefe durch dessen Bewusstsein zog, war jener, offenbar zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein.
8.09.10